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GMS Zeitschrift für Hebammenwissenschaft

Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi)

ISSN 2366-5076

Individuelle Schwangerschaftsdauer – die Reife ist nicht errechenbar

Originalarbeit

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GMS Z Hebammenwiss. 2020;7:Doc02

doi: 10.3205/zhwi000016, urn:nbn:de:0183-zhwi0000163

Dieses ist die deutsche Version des Artikels.
Die englische Version finden Sie unter: http://www.egms.de/en/journals/zhwi/2020-7/zhwi000016.shtml

Eingereicht: 20. August 2019
Angenommen: 8. November 2019
Veröffentlicht: 3. Juni 2020

© 2020 Zeeb et al.
Dieser Artikel ist ein Open-Access-Artikel und steht unter den Lizenzbedingungen der Creative Commons Attribution 4.0 License (Namensnennung). Lizenz-Angaben siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Der errechnete Termin (ET) wird routinemäßig als Ausgangspunkt für Interventionen genutzt. Es ist jedoch fraglich, wie stark das rechnerische Gestationsalter (GA) mit den klinischen Reifezeichen des Neugeborenen (NG) übereinstimmt.

Ziel: Überprüfung der Übereinstimmung von errechnetem Schwangerschaftsalter und den klinischen Reifezeichen des Neugeborenen.

Methode: 100 NG wurden innerhalb 72 Stunden post partum nach dem New Ballard Score auf ihre Reife hin untersucht. Das Verhältnis zwischen GA und befundeter Reife, auch differenziert nach Art des Geburtsbeginns, wurde mittels SPSS 24 analysiert.

Ergebnisse: Je früher vor dem ET die Geburt stattfand, desto reifer im Verhältnis zum GA wurden die NG nach den klinischen Befunden eingestuft. Je weiter der ET überschritten wurde, desto unreifer waren die NG im Verhältnis zum errechneten GA. Für Geburten rechnerisch nach SSW 40+0 (n=49) unterscheidet sich das rechnerische Gestationsalter in der Stichprobe signifikant vom befundeten Reifealter (p<0,001). Bei Einleitungen war eine Unreife wahrscheinlicher als bei spontanem Geburtsbeginn (RR=3,35; [95% CI 1,89-4,15]).

Schlussfolgerung: Bei Überschreitung des errechneten Termins hat das rechnerische Gestationsalter keine diagnostische Aussagekraft für den Reifezustand des NG. Die Festlegung eines taggenauen ET und dessen Verwendung für Interventionen ist daher kritisch zu hinterfragen. Weitere Forschung mit einer größeren Stichprobe ist erforderlich.

Schlüsselwörter: Reife, Neugeborene, Schwangerschaftsdauer, Überschreitung des Termins, Übertragung


Hintergrund

Seit über 200 Jahren wird versucht, mit zunächst rechnerischen und später zusätzlich sonographischen Mitteln den voraussichtlichen Geburtstermin zu bestimmen [21]. Ursprünglich für eine grobe Einteilung der Schwangerschaftsphasen gedacht, wandelt sich der errechnete Termin (ET) bei Schwangerschaftswoche (SSW) 40+0 zunehmend zu einer strikten Grenze, deren Überschreitung als Risiko gewertet wird.

In den letzten zehn Jahren sind die Einleitungszahlen bei Terminüberschreitung stark gestiegen. Im Jahr 2008 wurden von 658.201 Klinikgeburten in Deutschland 36.395 Geburten bei Terminüberschreitung eingeleitet [4], dies entspricht 5,53%. Dagegen wurden im Jahr 2017 von 743.241 Klinikgeburten 93.632 Geburten bei Überschreitung des Termins eingeleitet [15], hier entspricht der Anteil 12,6%. Im Jahr 2010 wurde von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe erstmals eine Leitlinie zum Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung publiziert. In der auch derzeit noch gültigen Fassung [9] wird empfohlen, bei Überschreitung des Termins um 10 Tage der Schwangeren auch ohne klinische Zeichen einer Pathologie eine Einleitung nahezulegen. Bei der Entscheidung über das geburtshilfliche Vorgehen wird hierbei der errechnete Termin maßgeblich in Ansatz gebracht.

In letzter Zeit ergeben sich allerdings vermehrt Hinweise darauf, dass bei den Methoden der Terminbestimmung bedeutende Fehlerquellen bestehen, sowohl bei der rechnerischen Bestimmung nach Naegele [20] als auch insbesondere bei der Bestimmung durch Ultraschall [18], [22], [34]. Zudem weisen aktuelle Daten darauf hin, dass die für die Berechnung des ET in der Regel angenommene durchschnittliche Gestationsdauer von 280 Tagen post menstruationem (p.m.) zu kurz angesetzt ist [16], [19]. In Frankreich beispielsweise wird der ET auf das Schwangerschaftsalter SSW 41+0 festgelegt [6]. Obgleich der errechnete Termin meist auf einer Schätzung des Gestationsalters anhand des Zyklus oder auf der Zuordnung eines Ultraschallmesswertes in einer Tabelle mit breitem Konfidenzintervall beruht, wird er als Diagnose gewertet und verbindlich festgelegt [24]. Die Tatsache, dass Schwangerschaften nur zu einem geringen Prozentsatz am errechneten Termin enden [17] wird dabei ignoriert. Es wird vielmehr angenommen, dass Abweichungen vom ausgewiesenen ET eher auf Berechnungsungenauigkeiten denn auf ein individuelles Reifungsgeschehen des Feten zurückzuführen sind. Dass Schwangerschaften möglicherweise in einem individuellen Rhythmus verlaufen und der Reifezustand von Neugeborenen nicht zwingend mit dem rechnerischen Gestationsalter korrelieren muss, wird nicht diskutiert.

Im Vorfeld der Arbeit wurde im Zeitraum November 2016 bis April 2017 eine breit angelegte Literaturrecherche zu den Schlagworten Reifung, Reife, Neugeborenes, Schwangerschaftsalter, Schwangerschaftsdauer, errechneter Termin, Überschreitung des Termins und Übertragung sowie deren Entsprechungen im Englischen mit den notwendigen Kombinationen durchgeführt. Verwendete Datenbanken waren Medline, Old Medline und die Cochrane Library (Wiley). Es wurden keine Suchrestriktionen bezüglich Zeitraum und Sprache in Anwendung gebracht.


Ziel

Im Rahmen der Arbeit soll hinterfragt werden, ob der rechnerische Termin die entsprechende Aussagekraft hat, um das physiologische Ende der Schwangerschaft und die Geburt eines reif geborenen Neugeborenen vorherzusagen.


Methode

Datenerhebung und Instrument

Die prospektiv angelegte klinische Studie wurde 2017 an einer Universitätsfrauenklinik mit jährlich etwa 2.400 Geburten durchgeführt. Bei 100 Neugeborenen wurde durch die Erstautorin innerhalb von 72 Stunden nach der Geburt die morphologische und neurologische Reife festgestellt. Die Bestimmung der klinischen Reifezeichen des Kindes erscheint als ein geeignetes Mittel, die Gültigkeit des errechneten Termins für das einzelne Neugeborene zu überprüfen. Auf Basis der vorhandenen Literatur wurde für diese Bestimmung der New Ballard Score als ein sehr gut evaluiertes Instrument zur möglichst exakten Reifebestimmung von Neugeborenen gewählt [1], [3], [5], [12], [28], [31]. Die Bestimmung des Reifescores geschieht hier auf der Basis von sechs morphologischen und sechs neuromuskulären Beurteilungskriterien.

Für die Durchführung der Studie liegt ein positives Votum der Ethikkommission bei der Ludwig-Maximilians-Universität München vor.

Ein- und Ausschlusskriterien für die Stichprobe

Das Minimum der rechnerischen Schwangerschaftsdauer wurde durch das Ausschlusskriterium Frühgeburt auf 259 Tage p.m. (SSW 37+0) festgelegt. Aufgrund in der Literatur beschriebener Einflüsse auf die intrauterinen Reifungsvorgänge, die sich nicht allein mit dem Gestationsalter erklären lassen, wurden von der Erstautorin folgende weitere Ausschlusskriterien festgelegt: Mütterlicher Gestationsdiabetes oder Diabetes mellitus [13], [26], mütterliche Hypertonie oder Präeklampsie [30], [35], sowie Mehrlinge [7], [25]. Neugeborene nichtkaukasischer Ethnien wurden wegen beschriebener Abweichung im New Ballard Score ausgeschlossen [2], ebenfalls Kinder in einem schlechten Allgemeinzustand, denen eine zusätzliche Untersuchung nicht zuzumuten war.

Vorgehen

Die Erstautorin hatte Zugang zur Neugeborenenstation, Einblick in die Akten der Neugeborenen, sowie Zugang zu den Eltern und den meist im Rooming-in bei den Müttern untergebrachten Kindern. In der Regel wurden die Eltern des Kindes bereits am Vortag der Untersuchung mündlich und schriftlich aufgeklärt und ihre Einwilligung eingeholt. Dabei wurde betont, dass die Kinder keiner übermäßigen Belastung ausgesetzt werden. Auch am Untersuchungstag selbst bestand für die Eltern jederzeit die Möglichkeit, die Untersuchung abzulehnen, auch wenn sie im Vorfeld grundsätzlich ihre Einwilligung schon erteilt hatten. Zunächst wurde anhand der Aufnahmelisten der Neugeborenenstation eine Auflistung aller zur Untersuchung in Frage kommenden Neugeborenen erstellt. Zusätzlich wurden die Ausschlusskriterien im Gespräch mit den Eltern nochmals abgefragt, um eventuelle Dokumentationslücken in der Akte auszuschließen. Der ET wurde so übernommen, wie er im Mutterpass dokumentiert war. Wurde der ET im Laufe der Schwangerschaft korrigiert, wurde der korrigierte Termin verwendet.

Ballard et al. fanden keinen Unterschied in den Ergebnissen der postnatalen Reifebestimmung und damit keinen bevorzugten Untersuchungszeitpunkt bis zu 96 Stunden nach der Geburt, wenn es sich nicht um Frühgeborene <27. SSW handelt [5]. Trotzdem wurden 72 Lebensstunden als maximales Alter des Neugeborenen bei der Untersuchung festgelegt.

Erhobene Parameter

  • Mütterliche Daten: Alter, Parität, Körpergröße, Gewicht vor der Schwangerschaft
  • Geburt: Art des Geburtsbeginns, Beckenendlage des Kindes (laut New Ballard Score dann Untersuchung >24 Stunden post partum)
  • Kind: ET nach Mutterpass, Geschlecht, Alter bei der Untersuchung in Stunden, Reifebefund nach New Ballard Score

Die Stichprobe umfasst 100 Kinder; eine Powerberechnung wurde angesichts des klein angelegten Rahmens einer Masterarbeit vorab nicht durchgeführt. Die erhobenen Daten der insgesamt 100 Kinder machten es möglich, in der Stichprobe sowohl das rechnerische Gestationsalter als auch den befundeten Reifestatus der Neugeborenen in Abhängigkeit vom kindlichen Geschlecht zu bewerten. Ferner wurde der Zusammenhang des befundeten Reifestatus mit dem rechnerischen Gestationsalter überprüft und der Frage nachgegangen, inwiefern Kinder, deren Geburt nicht spontan begonnen hat, in ihrer Reife Unterschiede zu der Gruppe der Kinder mit spontan begonnener Geburt aufweisen.

Statistische Auswertung

Die Daten wurden von der Erstautorin mit SPSS 24 ausgewertet. Dabei wurden Kennzahlen, Verteilungen und Standardabweichungen ermittelt. Kreuztabellen wurden erstellt und das relative Risiko bestimmt. Das Signifikanzniveau wurde mit p<0,05 festgelegt.


Ergebnisse

Schwangerschaftsdauer

Das arithmetische Mittel der rechnerischen Schwangerschaftsdauer in der Stichprobe liegt bei 280,37 Tagen, der Median exakt bei 280 Tagen (SSW 40+0). Der niedrigste Wert in der Stichprobe ist 263 Tage p.m. (SSW 37+4), der höchste ist 300 Tage p.m. (SSW 42+6). Insgesamt 49 % der Frauen überschritten den ET. Bei n=4 der Frauen in der Stichprobe handelt es sich um eine echte Übertragung mit einer Schwangerschaftsdauer über den 294. Tag p.m. (SSW 42+0) hinaus; bei n=13 Frauen beträgt die Terminüberschreitung mehr als zehn Tage, bei n=18 mehr als 8 Tage.

Befundetes Reifealter

Das nach New Ballard Score befundete Reifealter in der Gesamtstichprobe (N=100) beträgt im Durchschnitt 278,4 Tage. Zwar erscheinen männliche Neugeborene (n=52) mit einem durchschnittlichen Reifealter von 277,15 Tagen um 2,6 Tage unreifer als weibliche Neugeborene, dieser Unterschied ist aber mit p=0,127 nicht signifikant.

Übereinstimmung von rechnerischem Gestationsalter und befundetem Reifealter der Kinder

Die Kinder der Stichprobe sind auf den ersten Blick nur geringfügig jünger in ihrem Gestationsalter berechnet, als es ihr Reifegradbefund ergibt: Die Mittelwertdifferenz zwischen dem Reifealter nach dem New Ballard Score und dem rechnerischen Gestationsalter beträgt -1,970 Tage. In der Stichprobe besteht dennoch ein signifikanter Unterschied zwischen diesen beiden Parametern von t(99)= 2,015 und p=0,047. Hierbei fällt auf, dass nach dem ET geborene Kinder eine größere Abweichung zum rechnerischen Gestationsalter zeigen als vor dem ET geborene Kinder. Die getrennte Auswertung der Daten für Geburten bis einschließlich, beziehungsweise nach, dem ET zeigt: Für Geburten bis einschließlich SSW 40+0 (n=51) zeigt sich eine Übereinstimmung von rechnerischem Gestationsalter und befundetem Reifealter, jedoch ist das Ergebnis nicht signifikant, da t(50)=-1,064 und p=0,292. Dennoch ist festzustellen: Je mehr Tage die Geburt vor dem rechnerischen ET stattfindet, desto mehr Tage reifer werden die Neugeborenen nach dem New Ballard Score befundet. Für Geburten rechnerisch nach SSW 40+0 (n=49) besteht in der Stichprobe mit t(48)=3,990 kein Zusammenhang zwischen rechnerischem Gestationsalter und befundetem Reifealter (p<0,001). Aus den Daten ist abzulesen: Umso weiter nach dem ET die Kinder geboren werden, desto unreifer sind sie in Bezug auf das rechnerische Gestationsalter (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Bei der Überprüfung der Korrelation zwischen erreichter rechnerischer Gestationsdauer und der Abweichung des befundeten Reifealters vom rechnerischen Gestationsalter ergab sich eine signifikante negative Korrelation von r=-0,591und p<0,001 (siehe auch Abbildung 2 [Abb. 2]).

Zusammenhang zwischen der Art des Geburtsbeginns und der befundeten Reife nach dem New Ballard Score

Werden die Daten zur Abweichung des befundeten Reifealters zum rechnerischen Gestationsalter nach der Art des Geburtsbeginns (spontan oder induziert) aufgeschlüsselt, sind deutliche Unterschiede erkennbar. Bei spontanem Geburtsbeginn (n=77) liegt die Differenz zwischen Reife und rechnerischem Gestationsalter bei einem zu vernachlässigenden Wert von -0,16 Tagen. Bei Kindern, die durch eine primäre sectio caesarea entbunden werden (n=10), beträgt diese Differenz im Mittel -2,2 Tage, bei eingeleiteten Geburten (n=13) im Mittel -12,54 Tage. Betrachtet man gesondert die Gruppe der Einleitungen, die bei Terminüberschreitung erfolgt sind (n=11), erhöht sich die Abweichung auf -14,55 Tage. Der t-Test ergab einen signifikanten Unterschied bezüglich der Abweichung des befundeten Reifealters vom rechnerischen Gestationsalter zwischen spontan begonnenen Geburten und induzierten Geburten (p=0,001 bei t(98)=3,594). Bei Einleitungen war eine Unreife, die >7 Tage vom erwartbaren Reifealter abweicht, wahrscheinlicher als bei spontanem Geburtsbeginn (RR=3,35; [95% CI 1,89-4,15]).


Diskussion

Im Rahmen der Untersuchung war es nicht möglich, alle im Untersuchungszeitraum geborenen Kinder, die keine Ausschlusskriterien auswiesen, zu untersuchen. Die Stichprobe entstand rein zufällig (abhängig von den zeitlichen Beschränkungen der Erstautorin, der Erreichbarkeit der Eltern, sowie den Möglichkeiten zur sprachlichen Verständigung) und kann nicht als repräsentativ bezeichnet werden. Dennoch steht zu erwarten, dass sich der aufgezeigte Trend auch in einer grösser angelegten Studie zeigt.

Um auszuschließen, dass die Erstautorin bei der Überprüfung auf das Ausschlusskriterium Frühgeburtlichkeit vor der Untersuchung Kenntnis über das rechnerische Gestationsalter erlangte, wurden Kinder, deren Akten Ausschlusskriterien aufwiesen, zunächst namentlich in eine separate Liste aufgenommen. Diese wurde später mit der Gesamtliste der Kinder abgeglichen und die betreffenden Kinder aus der Stichprobe herausgenommenen. Dieses Vorgehen war nötig, um den direkten Zusammenhang von Namen und Gestationsalter zu vermeiden. Zwar wurde von Smith et al. festgestellt, dass das Wissen um das rechnerische Gestationsalter das Ergebnis der Untersuchung nach New Ballard Score nicht beeinflusst [28], dennoch wurde diese Vorsichtsmaßnahme eingehalten, um das Risiko eines „confirmation bias“ zu minimieren.

Die Ergebnisse stellen den bisher als feststehend angenommenen Zusammenhang zwischen dem rechnerischen Gestationsalter und der befundeten Reife grundsätzlich in Frage. Auch wenn die Scores zur Bestimmung des Reifealters eines Neugeborenen nicht dazu entwickelt wurden, Diagnosen in der Schwangerenbetreuung oder -vorsorge zu überprüfen, bietet die Anwendung des New Ballard Score die Möglichkeit, in einer größeren Stichprobe das eindeutige Ergebnis der vorliegenden Arbeit zu überprüfen: Das Gestationsalter spiegelt bei Geburten nach dem ET, insbesondere bei eingeleiteten Geburten nicht den Reifezustand des Kindes wider.

Aufgrund der geringen Fallzahl ist der scheinbar große Zusammenhang zwischen induziertem Geburtsbeginn und Abweichung vom befundeten Reifealter zu relativieren. Die Gruppe der Einleitungen und geplanten Sectiones ist mit n=23 klein und überschneidet sich zudem in 11 Fällen mit Frauen aus der Gruppe der Terminüberschreitungen über 41+1 SSW. Daher ist nicht zu ermitteln, ob die induzierte Geburt oder die Terminüberschreitung mit der starken Abweichung vom befundeten Reifealter korreliert. Der Effekt der Abweichung ist jedoch bei den Kindern mit spontanem Geburtsbeginn (n=77) nicht vorhanden, obwohl auch dort 9 Kinder mit Terminüberschreitung über 41+1 SSW zu finden sind. Eine mögliche Schlussfolgerung wäre, dass mit den Prozessen, die zu einem spontanen Geburtsbeginn führen, ein zusätzlicher Reifungsschub beim Feten einsetzt. Diese Frage zu beantworten muss zukünftiger Forschung vorbehalten bleiben.

Auch wenn der New Ballard Score im Vergleich zu anderen Erhebungsinstrumenten als gutes Beurteilungsinstrument bezeichnet werden kann, sind noch Fragen zu seiner Aussagekraft offen: Bereits in früheren Arbeiten wurde festgestellt, dass bei Beurteilung von Neugeborenen nach dem New Ballard Score Kinder vor dem Termin in ihrer Reife eher überschätzt, nach dem Termin eher unterschätzt werden [3], [31]. Daher muss diskutiert werden, ob die gewählte Methode der Reifebestimmung (New Ballard Score) grundsätzlich Abweichungen zeigt oder die Abweichungen der Reife vom rechnerischen Gestationsalter korrekt festgestellt werden. In den Untersuchungen, die Methoden zur Reifebestimmung evaluieren, wurde dieser Aspekt bisher nicht bewertet [8], [10], [12], [27], [29], [31], [32]. Die vermeintliche Überschätzung des Reifealters von Neugeborenen vor dem Termin und die Unterschätzung nach dem Termin findet sich allerdings nicht nur bei der Befundung nach Ballard, sondern auch bei anderen Methoden zur Reifebestimmung [5], [10], [11], [23]. Es besteht selbst bei unterschiedlichen Kollektiven, Untersuchungssettings und unter Anwendung anderer Untersuchungsmethoden [8], [27], [29], [32] ein durchgängig nachverfolgbarer Trend, der mit den hier präsentierten Ergebnissen übereinstimmt. Dies legt die Annahme nahe, dass Reifungsprozesse in der Schwangerschaft nicht immer kongruent zum errechneten Gestationsalter stattfinden.


Schlussfolgerung

Am Beispiel der vorliegenden Arbeit zeigt sich, wie unzureichend die verfügbaren Berechnungsarten für das Gestationsalter sind, um einem eventuell individuellen, aber auf jeden Fall anders als berechnet ablaufenden klinischen Prozess in utero gerecht zu werden. Es besteht dringender Forschungsbedarf, sowohl für die Frage nach der tatsächlichen Schwangerschaftsdauer und der Belastbarkeit des ET als diagnostischem Wert, als auch für die bisher geltende Annahme, dass Reifungsprozesse des Kindes in utero linear zum rechnerischen Schwangerschaftsalter verlaufen und durch Berechnung diagnostizierbar sind. Ergänzend ist weitere Forschung erforderlich, die sich mit den Hintergründen für Wachstums- oder Reifungsverzögerungen in utero beschäftigt [14].

Im klinischen Alltag sollte überdacht werden, ob das Vorgehen bei Terminüberschreitung durch eine Berechnungsmethode geleitet werden darf, deren Gültigkeit in Frage gestellt werden muss. Mit Sicherheit gibt es Kinder, die von einer Dysmaturität betroffen sind. Für diese wenigen Kinder ist es wichtig, dass dieser Zustand erkannt und die Schwangerschaft beendet wird, wie eine aktuelle Studie zeigt [33]. Für die übrige Mehrheit der Kinder gilt eventuell, dass die für sie notwendige physiologische Schwangerschaftsdauer lediglich länger oder durch Wachstumsrhythmen anders ist, als von uns erwartet. Die Reife eines Kindes ist vor der Geburt nicht errechenbar und bis jetzt leider auch nicht genügend diagnostizierbar. Eine taggenaue Bestimmung ist in keinem Fall erforderlich. Daher sollte die Bestimmung eines exakten Datums für das Ende der Schwangerschaft nur im Kontext (arbeits-)rechtlicher Bestimmungen, wie zum Beispiel dem Beginn des Mutterschutzes, relevant sein und nicht als medizinische Notwendigkeit bestehen bleiben.


Anmerkungen

Interessenkonflikte

Die Autorinnen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


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