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Die Debatte um die Pockenschutzimpfung in der Zeit von 1920 bis 1960 – Kontinuitäten und Brüche in der Impfgegnerschaft und in der gesundheitspolitischen Reaktion
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Veröffentlicht: | 6. September 2007 |
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In diesem zweigeteilten Beitrag wird die Debatte über die 1874 festgelegte Pflicht zur Impfung gegen eine Pockenerkrankung in einer long durée-Perspektive nachgezeichnet und dabei das Spannungsverhältnis zwischen den individuellen Rechten der Menschen und der Staatsaufgabe des Schutzes der Gesamtbevölkerung in den Blick genommen. Das Augenmerk liegt auf den Veränderungen in der Argumentation und in der Reaktion über die politischen Systemwechsel hinweg.
Die Krankheit Pocken wies eine hohe Sterblichkeit auf. Es gab nur die Möglichkeit der symptomatischen Therapie, die Impfung war die spezifische Möglichkeit, den Pocken vorzubeugen. Die bereits in der Weimarer Republik wirkungsmächtige Impfgegnerschaft führte die potentiellen Nebenwirkungen der Impfung als Argumente an: tödlichen Ausgang schwere Lähmungserscheinungen, Krämpfe und geistige Retardierungen. Sie forderten die Einführung einer an dem englischen Modell orientierten „Gewissensklausel“, die eine Freistellung von der Impfung ermöglichte. Eine gesunde Lebensführung sowie die Quarantäne waren für diese Opposition hinreichende Maßnahmen zur Prävention oder Bekämpfung einer Epidemie. Im Gegenzug wurde staatlicherseits mit dem Wohl der Gesamtbevölkerung argumentiert. Neben medizinischen Argumenten spielten aber auch konkrete materielle Fragen eine Rolle: Die Frage nach der Entschädigung im Falle eines Impfschadens ist im Untersuchungszeitraum unterschiedlich stark in ihrer Gewichtung, doch immer präsent.
Als Quellen werden Akten aus staatlichen Archiven verwendet.
Während in der Weimarer Republik die Impfgegnerschaft eine starke Rolle einnahm und die Debatte massiv prägte, verlor sie diese Position in der Zeit des Nationalsozialismus und wurde mit einem Verbot belegt, um dann in der Nachkriegszeit im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaates und im Zuge neuer medialer Möglichkeiten wieder eine verstärkte Resonanz zu erhalten. Trotz veränderter Rahmenbedingungen blieben die Argumentationsmuster der beteiligten Akteure konstant.
An dem historischen Beispiel der Pocken-Debatte läßt sich zeigen, daß hier nicht allein die Krankheit, sondern auch die Angst davor verhandelt wurde, die auch heute, wenn neue Richtlinien oder Schutzmaßnahmen gegen eine kommende Pandemie geplant werden, nicht unberücksichtigt bleiben sollte.
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